von Norbert Sommerfeldt
Zwei Leben. Nur einen der zwei Menschen, über die hier berichtet wird, habe ich persönlich kennengelernt: Den jungen Nazer. Als er mit 17 Jahren zu mir kam, um Deutsch zu lernen.
Die Taliban haben seine Eltern ermordet, er wurde gefoltert, man hat ihm die Gesichtsknochen zertrümmert und dann als blutendes Bündel liegen lassen. Er hat überlebt.
Er kam über die Landroute nach Deutschland und beantragte Asyl. Als unbegleiteter Jugendlicher wurde er in einem Heim untergebracht. Da traf er auf eine neue soziale Schichtung. Als Afghane war er der “letzte Dreck“, weil die anderen Flüchtlinge aus Syrien kamen. Diese Syrer meinten, sie stünden sozial über den Afghanen. Deshalb, und weil es Spaß macht und die Heim-Langeweile vertreibt, drangsalieren sie diese. Natürlich sind nicht alle syrischen Flüchlinge so, aber etliche eben doch.
Nazer war voller Eifer und motiviert. Er war Analphabet und wusste, dass er sehr viel lernen musste. Er mühte sich, kämpfte gegen seine ständigen Kopfschmerzen und gegen seine Angstschübe. Wir erzielten sehr langsame Fortschritte, aber er entwickelte Hoffnung, wollte einen Beruf erlernen und weiter arbeiten. Dann kam sein 18. Geburtstag. Jetzt war er volljährig und musste das Heim verlassen. Wo sollte er bleiben? Nichts, was die deutschen Ämter zur Aktion veranlasst hätte.
Voltaire schrieb im Candide: “Gott hätte ihr nicht geholfen, allein, sie war recht niedlich“.
Nazer lernte, dass es ältere (deutsche, reiche?) Männer gibt, die für junge Männer gerne Geld ausgeben…
Ich traf ihn dann noch zweimal. Beim ersten Mal war er auffällig gekleidet und stolzierte herum, wie ein Gockel. Lernen wollte er nicht mehr.
Beim zweiten Mal sah er völlig herruntergekommen aus, war in Begleitung einer drogenabhängigen Obdachlosen, die mich in sehr fordernder Art um Geld anging. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Er ist bei mir nicht wieder aufgetaucht.
Elend in Deutschland.
In München ist gerade ein Gastroenterolge zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er narkotisierte Frauen während der Darmspiegelung, vergewaltigte. Das macht fassungslos. Was treibt einen Menschen an (der finanziell und sozial gut situiert ist) derartige Taten zu begehen? Ist er psychisch gestört? Braucht er die Macht über Wehrlose, um sich zu erregen?
Zwei unterschiedlichen Lebensläufe, die ich nicht wirklich begreife. Ein Vergleich ist sicherlich unzulässig, aber es ist schwer nicht laut loszuschreien und sich zu ereifern. Nein, Respekt zu zeigen und auf die Gerichte zu vertrauen. Zeit zur Demut. Daran denken, dass Täter, Opfer, Flüchtlinge, Hetzer, Aufwiegler, Richter, Politiker, Helfer und all die anderen, Menschen sind. Versuchen wir menschlich zu sein, die Humanität zu bewahren!