Konsequenzlos

„…Wichser, Schlampe, Opfer und Hure…“

Die konsequenzlose Gesellschaft

Nie hätte ich mir träumen lassen, ein Moral-Apostel werden zu müssen. Zu scheinheilig war die Moral, die uns in den fünfziger und sechziger Jahren eingetrichtert wurde. Das war Wasser predigen und Wein trinken. Was sollte man von „Moral“ halten, wenn ein bigotter schwäbischer Ministerpräsident sich als „fürchterlicher“ Marinerichter entpuppte, der noch nach Ende des 2. Weltkrieges Todesurteile gegen „Deserteure“ fällte. Was sollte mensch von einem Innenminister halten, der meinte, er könne nicht immer das Grundgesetz unter dem Arm tragen? Heute sehe ich eine gesellschaftliche Verkommenheit und eine emotionale Verrohung einer Art, wie sie mir früher nicht vorstellbar war. Und das trifft für Vieles zu.

Mobbing oder Hänseln?

Das was heute Mobbing genannt wird ist im Kern nicht neu. In den Schulen der Berliner Arbeiterviertel, die ich besuchte, waren schon vor Jahrzehnten Bezeichnungen wie Fettsack, Feigling, Arschloch, Schwächling, usw., Begriffe, mit denen Mitschüler ihre Klassenkameraden belegten. Und unter den Mädchen ging es ähnlich zu – nur waren es da andere Begriffe.

Doch was war damals anders? In erster Linie die Direktheit. Man wusste, wer da wen „hänselte“. Damit gab es auch die Möglichkeit sich zu wehren und sich helfen zu lassen. Das ging häufig ohne die Einmischung von Eltern und Lehrern. Wir regelten das unter uns. Wir hatten eine „Ehre“. Vielleicht nicht die, die uns als Moral gepredigt wurde, aber es gab feststehende Auffassungen.

Man petzt nicht. Wenn einer unten liegt, ist der Kampf zu Ende. Mädchen schlägt man nicht. Wer einen Schwächeren bedrängt, ist ein Feigling. Man wirf nicht mit Sachen nach Menschen. Wer Scheiße baut, muss auch dafür grade stehen.

Wer sich nicht an solche „Moral/ Ehre“-Regeln hielt, war „unten durch“. Dann wurde der/diejenige tatsächlich von vielen gemobbt, sie wurden ausgegrenzt. Man half denen nicht mehr. Mit denen sprach man nicht. Neben denen wollte keiner sitzen. Das war auf Dauer viel schmerzhafter als ein Tadel vom Lehrer oder eine Ohrfeige zu Hause.

Macht, Moral, Sanktion, Gewalt

Das bedeutete, unmoralisches oder unehrenhaftes Verhalten wurde sanktioniert. Kaum einer durfte damit rechnen, unerkannt zu bleiben und sich den Konsequenzen des eigenen Handelns entziehen zu können. Die Macht wurde durch Einverständnis und Gruppenbildung ausgeübt, war aber kein Selbstzweck. Auch die Gewalt, die manchmal vorkam, wurde nicht grundlos eingesetzt. Grade wir Jungs lernten zu eskalieren und zu de-eskalieren. Niemand wollte wegen eines dummen Spruchs was auf die Nase bekommen. Keiner wollte ständig Ärger haben. Das funktionierte nur, wenn wir lernten, rechtzeitig einen Rückzieher zu machen, anderen „Raum“ zu geben. Um des Friedens willen mal eine Kröte zu schlucken. Man lernte sich zu arrangieren und dafür den Schutz der Gruppe zu haben. Kompliziert wurde es immer, wenn sich jemand von Außen einmischte. Das konnte das ganze austarierte Gefüge durcheinander bringen. Es gab Lehrer die das wussten und es für sich ausnutzten. Das waren die harmonischsten Klassen. Lehrerinnen mischten sich häufiger ein. Wegen der „Gewalt“ und um die „schwachen“ Mädchen zu schützen. Wenn die gewusst hätten…

Für Erwachsene allerdings, war verbale Gewalt auszuüben und eine Position auszunutzen, scheinbar nach proklamierter Moral legitim.

In der „erwachsenen“ Gesellschaft gibt es andere Gruppen die Gewalt ausüben. Sie haben das Ziel Macht zu bekommen und auszuüben. Unter anderem um Sanktionen (Strafen) zu entgehen. Wenn solche Gruppen, sei es durch finanzielles oder ideologisches Nutznießen, innerhalb der Gesellschaft, der Politik und Justiz gedeckt werden, wachsen sie schnell und werden mächtig. Ob das die Mafia, Seilschaften, Wirtschaftsvereinigungen, Kartelle oder der einfache Mob ist – die Muster gleichen sich. Hat so eine Gruppe ausreichend Macht durch Protektion, Beeinflussung und Gewalt erlangt, beherrscht sie die Gesellschaft, weil sich keiner mehr traut ihnen entgegen zu treten.

Spielt sich das im Bereich von Gesinnung ab, benötigen diese Gruppen Schuldige (egal woran) und die müssen leichte Opfer sein: Minderheiten jeder Art. Das entwickelt für Schwächlinge und Feiglinge einen unwiederstehlichen Sog, die sich dann im Schutz der Gewalt ausübenden Gruppe(n) stark und zusammengehörig fühlen. Um so einfacher ist es, für diese meist martialisch Auftretenden, sich an Schwachen zu vergehen. Hauptsache sie haben keine Konsequenzen zu befürchten.

Nährboden dafür ist wiederum ein Staat, der seine Aufgaben nicht erfüllt: Recht zu schaffen, in dem die Schwachen vor den Starken geschützt werden. Für entscheidende lebenswichtige Einrichtungen zu sorgen (Infrastruktur, Wohnen, Bildung, Gesundheit, etc.). Chancengleichheit zu schaffen und wachsende große Ungleichheiten des Einkommens eindämmen, uws. Alles Felder in denen unser Staat seit Jahrzehnten gründlich versagt. Es gibt jede Menge rechts- und sanktions-freier Räume in dieser Republik. Die BRD hat das Abkommen gegen Korruption nicht ratifiziert. Offenbar aus gutem Grund. So wächst der Nährboden von Radikalität und unkontrollierbarer Macht. Das ist nicht auf die BRD beschränkt, wir leben nicht isoliert.

Seit zwanzig Jahren entwickeln sich globale rechtsfreie Räume in Form (a-)sozialer Medien und dem Internet. Sprache wird verkürzt und verkommt. Es gibt eine unendliche Fülle von Filmchen in denen Leute zu Schaden kommen und über die alle lauthals lachen und das „teilen“. Heute klebt man an seinen (mobilen) Kommunikationsgeräten. Es wird gepostet, gechattet und geblogt. Geht es darum geht andere schlecht zu machen, zu beleidigen und zu bedrohen, dann natürlich anonym. Das

Netz gibt jeder und Art von Kriminalität Raum. Ob Kinderpornos oder Waffenhandel, ob Mordauftrag oder Wirtschaftsbetrug, „nichts ist unmöglich“ (Toyota). In diesem Dunkelfeld bewegen sich natürlich auch Staaten, Geheimdienste, Spione und Parteien. Der Cyberkrieg hat nicht nur längst begonnen, sondern die Lebensart, die die meisten Europäer zwischen 1950 und 2010 bevorzugten, hat schon verloren.

Die Mehrheit unserer Gesellschaft erkennt das nicht einmal. Sie sind unendlich Daten-Inkontinent. Sie geben (für kleinste Vorteile und Bequemlichkeiten) alles von sich Preis und wundern sich, das das auch als Mobbing zurück kommen kann. Dabei ist das noch Nichts im Vergleich zu der Manipulation, die durch permanente Datenspuren, verarbeitet durch Algorythmen, möglich wird. Eine Suche im Netz, beispielsweise Gesundheitsfragen, und man bekommt keine Versicherung mehr. Eine nicht beglichene, unberechtigte Forderung und die Kreditwürdigkeit ist futsch. Ein nackter Arsch eines 15jährigen im Netz und fünf Jahre später wird seine Bewerbung abgelehnt.

Es gibt keine Sanktionen, keine Strafen mehr, die einem humanistischen Gerechtigkeitsgefühl entsprechen. Der alte Spruch des Volksmundes: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es hinaus!“ hat scheinbar seine Gültigkeit verloren.

Wo kommt das her?

Kohls „geistig-moralische Wende“ hat den Privatmedien ermöglicht, an die Printmedien a la Bild anzuknüpfen. Was sangen die FantaVier, stehe da drin? „Angst, Hass, Titten und der Wetterbericht“.

Besonders beliebt sind Sendungen bei RTL & Co, in denen Menschen zum Opfer gemacht werden. Sie – am Liebsten weiblich, minderjährig dabei seyx be- oder entkleidet – werden vor Millionenpublikum vorgeführt, erniedrigt und dann sich selbst überlassen. Das finden die Zuschauer vor den Bildschirmen geil. Wenn andere die Opfer sind und es dann obendrein, zur Identifikation und als Alibi, auch einen Sieger gibt. Die Opfer, die Verlierer, waren ja selbst Schuld: „Sie hätten das ja nicht machen müssen. Da kriegen die ne Masse Geld für.“. Wir lieben die Sieger, weil die fast wie wir sind, nur ein wenig besser in einer Disziplin. Bis auf manchmal. Da begeistern wir uns für besondere Verlierer, wie den fast blinden britischen Skispringer „Eddie the eagle“.

Wen wundert es, wenn Menschen selbst mit medialer Macht, in Form von PC und SmartPhon, ausgestattet, als Konsumenten jener Vorbilder in ihrem Umkreis dasselbe machen? Mit „Freunden“ verbal auf „Verlierer“ losgehen, sich an ihrem Leid weiden und sich gemeinsam dabei wohlfühlen. Unbedingt „liken“. Wir lieben das Unglück anderer, die wir hochnotpeinlich vorführen und verleumden. Hauptsache nicht selbst Opfer werden. Jeder Teilnehmer sogenannter Sozialer Medien ist nur wenige Wischer vom Rufmord entfernt. Hier werden 13jährige ebenso wie 80jährige, zu übelsten „Tratschweibern“.

Nicht das es kein Mitgefühl gäbe. Wenn ein niedliches Eisbärbaby im Zoo krank wird, fließen international Ströme von Tränen. Wenn ein sympathischer Mensch (vermeintlich) ein Unglück oder Unrecht erfährt, entwickeln sich in Minutenschnelle digitale Liebeswogen und die vermeintlichen Verursacher gehen in „Shit-Storms“ unter. Es bedarf keiner Beweise oder Belege. Wozu? Es gibt keine Sanktionen. Ich darf straffrei beleidigen und verunglimpfen. Und damit wird, nebenbei gesagt, bestens verdient. So wird auf Dauer jede Gesellschaft zersetzt.

So sehr es einen alten Anarchisten (herrschaftsfreie Gesellschaft bedeutet Selbstverantwortung) schmerzt: Schluss mit der Anonymität in der digitalen Welt! Macht kaputt was euch kaputt macht! Und: Verantwortet das was ihr macht!